Kapitel 2 – Doppeldenk und Neusprech
Georg Orwells Doppeldenk-Konzept – Fake News und parallele Realitäten
Wer die aktuellen politischen Debatten verfolgt, könnte den Eindruck gewinnen, in parallelen Realitäten zu leben. Täglich prasseln Meldungen auf uns ein – echte Informationen, Halbwahrheiten und Fake News vermischen sich so, dass es immer schwerer fällt, Wahrheit von Lüge zu unterscheiden.
Anhand unverfänglich scheinender Beispiele möchte ich an dieser Stelle die Doppeldenk-Neusprech-Strategie beschreiben.
Orwell definiert Doppeldenk als die Fähigkeit, zwei widersprüchliche Gedanken gleichzeitig für wahr zu halten. Ein klassisches Beispiel aus seinem Roman 1984 ist der Slogan: „Krieg bedeutet Frieden. Freiheit ist Sklaverei. Unwissenheit ist Stärke.“
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Neusprech – Sprache als Herrschaftsinstrument
Orwell beschreibt, wie die Kontrolle über Sprache genutzt wird, um Gedanken zu lenken und alternative Sichtweisen zu unterdrücken.
Das betrifft heute nicht nur die populistischen Denkrichtungen von „rechts“, sondern ebenso die progressiven Bewegungen von „links“.
Die Einführung von Neusprech (Newspeak) dient genau diesem Zweck:
Wer keine präzisen Worte
für ein Konzept hat,
kann es auch nicht mehr
klar denken oder artikulieren.
Letztlich geht es darum, die Vergangenheit kontinuierlich so zu verändern, dass die eigene Ideologie als unfehlbar erscheint.
Neusprech sorgt dafür, dass Reden, Statistiken und Aufzeichnungen so angepasst werden, dass sie im Nachhinein immer zur
offiziellen aktuellen Wahrheit passen – und dass die ursprüngliche Vergangenheit als korrekt gegolten haben wird, obwohl es sie
in dieser Form nicht gegeben hat.
Die Umschreibung von Geschichte ist ein zentrales Element der Kontrolle über die verzerrte Realität, die aber keine ist, sondern
nur eine Wirklichkeit in der eigenen Denkblase.
Warum ist der Diskurs so kompromisslos?
Warum sind viele Diskursteilnehmer heute so kompromisslos? Wer seine Meinung ändert oder gar seine Politik anpasst, gesteht Schwäche ein. Viele legen sich irgendwann fest und bleiben dann dabei, selbst wenn es neue Erkenntnisse gibt.
Ganz nach Doppeldenklogik:
„Wissen ist Schwäche.“
Passen die Fakten nicht ins Weltbild,
dann müssen die Fakten geändert werden.
Dietmar Helmer, angelehnt an ein Zitat, das fälschlich Albert Einstein zugeschrieben wird.
Falschzitat: „Wenn die Fakten nicht zur Theorie passen, ändere die Fakten.
Warum ist es kaum möglich, gesellschaftspolitische Fragen gemeinsam grundlegend zu erörtern und zu lösen? Weil das Orwellsche Konzept von Doppeldenk es ermöglicht, widersprüchliche Überzeugungen gleichzeitig aufrechtzuerhalten, um Macht und Kontrolle
zu sichern. Während Orwell dies als Kennzeichen totalitärer Regime beschrieb, wird es heute auch von energischen Minderheiten eingesetzt.
Wer beispielsweise den menschengemachten Klimawandel für unwahr hält, kann sich durch Doppeldenk rechtfertigen, indem er behauptet: „Es gibt keinen menschengemachten Klimawandel, aber wenn es ihn gäbe, wären andere dafür verantwortlich. Deutschland verursacht nur etwa 2 % des globalen CO₂-Ausstoßes. Wir sind viel zu klein, um etwas zu ändern. Als Einzelner habe ich sowieso keinen Einfluss auf die Klimaerwärmung. Das ist alles nicht so schlimm.“
Diese Aussagen könnte man zwar auch mit dem Konzept der Verdrängungsverzerrung erklären, doch es steckt meines Erachtens nicht nur Wegschauen und Ignoranz hinter solchen Selbsteinreden. Da Themen wie der Klimawandel oder die Altersversorgung komplex sind und den meisten Menschen die Zeit für tiefere Recherchen fehlt, nimmt man oft hin, dass die oberflächlichen Informationen, die man konsumiert, eher wahr sein sollten, als dass sie falsch sein könnten. Man neigt dabei dazu, seinen Weltanschauungen treu zu bleiben.
Doppeldenk bedeutet, zwei widersprüchliche Überzeugungen gleichzeitig für wahr zu halten. Orwell schreibt in 1984 (Teil 2, Kapitel 9): „DOUBLETHINK bedeutet die Fähigkeit, zwei widersprüchliche Überzeugungen gleichzeitig im Kopf zu haben und beide zu akzeptieren.“
Neusprech verschleiert die Widersprüche – Das Beispiel Sondervermögen
Das menschliche Gehirn erlaubt es, Widersprüche auszublenden. Neusprech hilft dabei, diese Widersprüche sprachlich zu verschleiern.
Ein Beispiel aus der deutschen Politik ist der Begriff „Sondervermögen“.
Statt von Schulden oder Verbindlichkeiten zu sprechen, wird der positiv besetzte Begriff „Sonder“-Vermögen genutzt. Dieser klassische Neusprech-Mechanismus, bei dem ein positiv konnotierter Begriff für finanzielle Ressourcen (Vermögen) verwendet wird, verschleiert den eigentlich negativ belegten Tatbestand einer kreditfinanzierten Ausgabe. Diese subtile Verwendung des Begriffs Vermögen für den Begriff Schulden stellt für kritische Geister eine Herausforderung dar – denn wer sich dem sprachlichen Trick verweigert, gerät schnell ins Abseits. Für Anpassungswillige hingegen ist es eine Erleichterung: Sie übernehmen die verharmlosende Sprachregelung und vermeiden so Reibung.
Unser Gehirn funktioniert am besten, wenn wir ihm Zeit zum Nachdenken geben. Wann haben Sie sich diese Zeit zuletzt genommen – zwischen all den 15-sekündigen Social-Media-Clips?
Im Doppeldenk hieße die gesetzte Botschaft:
„Sondervermögen bedeutet Wohlstand.“ – also bedeutet Schuldenmachen Reichtum. Willkommen im Finanz-Doppeldenk.
Bezogen auf das in diesem Buch darzustellende Thema „Rente“ bedeutet das im Doppeldenk: „Die ältere Generation bekommt zu viel Rente, das bedeutet Armut für die junge Generation.“
Wer fragt denn schon nach, wenn die Botschaft so einfach sein kann? Warum sollte es wichtig sein, zu hinterfragen, ob das Gesagte
denn wahr oder „richtig“ ist?
Doppeldenk im Alltag erkennen – Begriffe, die aufhorchen lassen
Testen Sie selbst, wie oft Sie auf solche Doppeldenk-Begriffspaare stoßen:
- Neugestaltung von Arbeitsprozessen statt Entlassungen
- Negativwachstum statt Rezession
- Beitragsanpassung statt Gebührenerhöhung
- Krieg gegen den Terror statt militärische Konflikte
- Konsolidierung der Rentenfinanzen statt Erhöhung des Renteneintrittsalters und Rentenkürzung
Doch nicht jede sprachliche Abschwächung ist automatisch manipulativ, also eine gezielte Beeinflussung (negative Orientierung). Eine geschickte Verhandlungstechnik, wie etwa Diplomatie, ist vielmehr eine vornehme Umgangsform der Einflussnahme (positive Orientierung).
Probieren Sie es aus! Sagen Sie zu Ihrer Partnerin: „Du bist zu dick.“ Dann dürfte sich ein gewisses Spannungsverhältnis in dieser Partnerschaft eröffnen. Sagen Sie stattdessen: „Lasse uns gemeinsam bewusster auf unsere Ernährung achten.“ Diese Botschaft wird ganz anders aufgenommen – zumal Sie sich selbst mit einbeziehen.
Um politisch korrekt zu bleiben, ein weiteres Beispiel: Sagen Sie zu Ihrem Partner, er sei eine faule Couch-Kartoffel (Couch Potato). Wahrscheinlich wird er sich daraufhin noch fester auf dem Sofa verankern und den nächsten Fußball-Fernsehmarathon mit einer Chipstüte in der Hand bestreiten. Sagen Sie stattdessen: „Es ist eine besondere Freude, wenn wir nach dem Fußballspiel gemeinsam spazieren gehen, Hand in Hand, um unser körperliches Gleichgewicht besser zu steuern.“
Er wird wahrscheinlich trotzdem nicht sofort aufspringen – aber er fühlt sich besser, weil Sie ihm mit Ihrer Formulierung Zuneigung, statt einen Vorwurf vermittelt haben. Veränderung braucht schließlich Geduld. Oft führt eine diplomatische Herangehensweise eher zum Ziel als ein direkter Vorwurf.
Fazit
Das Konzept: Doppeldenk beschreibt die Fähigkeit, zwei widersprüchliche Gedanken gleichzeitig zu akzeptieren, ohne den Widerspruch zu bemerken oder zu hinterfragen. Es geht um eine Form der kognitiven Selbstkontrolle, die es ermöglicht, sich dem herrschenden Narrativ anzupassen, auch wenn es logisch unvereinbar ist.
Die Methode: Neusprech ist das sprachliche Werkzeug, das diese Denkweise erleichtert. Durch die gezielte Veränderung und Reduzierung von Sprache wird kritisches Denken erschwert, alternative Perspektiven eliminiert und Doppeldenk erst möglich gemacht.
Neusprech manipuliert die Sprache –
Doppeldenk manipuliert das Denken.
Wer sich der Sprache bewusst wird, kann ihre manipulative Kraft durchschauen. Erst wer die Begriffe hinterfragt, kann sich den Denkmustern entziehen, die oft unbemerkt übernommen werden. Das Erkennen dieser Mechanismen ist der erste Schritt zur informationellen Selbstbestimmung.
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Realität ist Ansichtssache? Wirklich? – Vielleicht.
Doch wer Sprache nicht nur hört, sondern liest – zwischen den Zeilen, hinter den Bedeutungen, im Gebrauch der Begriffe – merkt schnell:
Worte der Führenden und Verführenden regieren mehr, als Gesetze je sichern könnten.
Was wie Analyse oder Verbindlichkeit klingt, kann getarntes Doppeldenk sein.
Was sich sachlich und seriös gibt, spricht womöglich längst im Neusprech.
Lesen Sie in meinem Buch weiter – oder lassen Sie es.
Aber wer sagt Ihnen, dass Ihre Unentschlossenheit nicht bereits Teil jener Geschichte ist, die andere gerade schreiben?